Warum sollte man in Zeiten wie den unsrigen dichten? Warum sollte man sich mit einem Versmaß auseinandersetzen in einer Epoche, die jedes Maß verloren hat? Warum sollte man seine Gedanken sammeln und sortiert zu Papier bringen, wenn gerade die Verhältnisse tanzen und die Ordnung zu schwinden beginnt? Warum sollte man sich Zeit nehmen, Worte abzuwägen und sorgsam aneinander schmiegen, wenn Unwahrheiten, Ungenauigkeiten, ja Sprachlosigkeit und Sinnleere den öffentlichen Textdiskurs bestimmen? Warum sollte ich die Anstrengung des Atmens auf mich nehmen, wo mein Tod doch seit meiner Geburt Gewissheit ist?
Wer je ein Kind beim Reimen, beim Spiel mit Worten, beim drehen der Vokale, beim sinnfreien Lautieren zuhören konnte, hat eine Ahnung von der ungeheuren Lust, die sich in der Seele ausbreitet, fügt sich die Sprache den galoppierenden Melodien von Zunge und Gedanken. Es ist der archaische Wortspieltrieb, der ohne Unterlass durch das naive Gehirn tobt, niemals still steht und ständig nach einem Stück Papier verlangt, um aus den flüchtigen Bekanntschaften treue Gefährten zu machen.
Doch Dichten ist mehr als Reimen. Dichten ist Goethe im Sturm und Drang, Schiller im Gedankenflug, Heine mit Heimweh, Trakl in Verzweiflung, Hölderlin im Wahnsinn, Celan am Abgrund, Dylan Thomas in der Kneipe, Bob Dylan mit Mundharmonika, Neil Young mit Gitarre, Withman auf Gras und Blake auf Leinwand. Es ist die Fähigkeit der Muschel, ein Sandkorn, eine Verunreinigung, einen Schmutzpartikel aufzunehmen, ihn zu bearbeiten, dabei stets mit neuen Schichten erstarrenden Schleims zu überziehen, um eine wertvolle Perle zu erschaffen.
Dieses Bild lässt sich noch weiter treiben bis hin zu dem verwegenen Taucher, der unter Einsatz seines Lebens in die trüben Tiefen des Meeres hinabsteigt, die Muschel von ihrem Felsen schneidet, sie aus ihrer Heimat herausreißt, um sie an der Oberfläche auf dem schwankenden Kahn, der in der leichten Dünung der blauen Wellen tanzt, verenden zu lassen, damit er den Schatz im Inneren dieses Wesens an sich nehmen kann.
Dichten ist die Aufgabe des banalen Alltäglichkeitsdaseins, um die Flüchtigkeit des Erlebnismoments in einem Gespinnst aus Lauten und Zeichen zu konservieren.
Diese Erlebnismomente sind auch in unserer Zeit der grenzenlosen Totalbeschleunigung allgegenwärtig, auch wenn ihre Augenfälligkeit hinter dem Glasperlenglanz der globalen Untergangsgesellschaft zurücksteht. Es ist der reinweiße Schnee an einem klaren Wintermorgen, der beim Brötchenholen unter den Füßen knirscht. Es ist das Lied aus dem Autoradio, dessen Melodie den Rest der Fahrt nicht aus den Gehörgängen verschwindet. Es ist das Kinderlachen, das über den Spielplatz durch das offene Fenster herüberhallt. Es sind die brennenden Küsse auf feuchter Haut unter dem Duft dahinsterbenden Verlangens. Es ist der gezwinkerte Blick brauner Augen, der sich harpunenartig in ein verfrorenes Herz hineinverhakt. Es ist der blonde Haarschopf, den der Wind am Bahngleis mit einem Duft der Vanille vorüberwehen lässt. Es sind die altersgrauen Hände, die zärtlich wie bei der ersten liebenden Begegnung sich ineinanderfalten, bis sich die goldenen Ringe aneinander schmiegen. Es ist der schwere Duft von Weihrauch, der von den perlenden Orgelakkorden bis in die Spitze des Kirchenschiffs getragen wird. Es ist das schlanke Beinpaar, das unter dem Tisch im Eiscafé mit elektrisierendem Knistern übereinander geschlagen wird. Es ist der bemooste Grabstein, auf dem die einsame Rose an diesem Morgen abgelegt worden war. Es ist der angegraute Fußball, der neben den Grabkerzen, Holzkreuzen und Blumengestecken an der Fußgängerampel liegt. Es ist das Konzert, dessen ekstatische Wucht wie eine Herde Bisons von der Bühne durch die Fanreihen jagt.
Es ist der Moment, in dem die Weltmaschine in atemloser Pause stillzustehen scheint, sich Poren öffnen, Pupillen weiten, Nasenflügel sich anheben, Gehörgänge aufgeschlossen sind, Blut im Schädel kocht und Fingerspitzen in mikroskopischer Empfindsamkeit tasten, ein neues Universum erfahrend. Die Gefühle und Empfindungen, die diesen Erlebnismomenten entspringen, gilt es, in eine Zeitkapsel einzuschließen, um diese in einer unbekannten Zukunft zu öffnen, um deren Inhalt wieder lebendig neu zu erfahren.
Wie in dem Augenblick, als die Worte sich ursprünglich zusammenfügten, müssen beim Aufschließen der Kapsel Hände brennen, Seelen in Flammen stehen und Herzen zerspringen. Unter der Wucht der Gefühle und Empfindungen müssen Mauern kritischer Rezeption niedergerissen und geschleift sowie Logendistanz zum Rezensenten mit Lichtgeschwindigkeit überwunden werden.
Um dieses in unserer Zeit zu erreichen, müssen die Feinmechanikerwerkzeuge der Goldschmiede und Uhrmacher wieder beiseite gelegt werden. Langschwerter, Äxte und Armbrüste sind aus den Waffenkammern zu holen, zu entstauben und auf die Turnierplätze zu tragen. Der Kampf um die Herzen der Prinzessinnen, den Verstand der Könige und die Seelen der Zuschauer ist ein ehrenwertes Anliegen, dass nur der entfesselte Gladiator mit seiner Leidenschaft zum Erfolg führen kann.
Und bevor der tapfere Streiter, der Held der elysischen Felder, die Arena betritt, um seine Fahnen zum Sieg zu führen, erfasst von einer vertrauten, ungestümen Unruhe, fühlt er das Blut, vom pochenden Herzschlag angetrieben, durch die Adern schießen. Inne haltend, beugt er das letzte Mal sein Knie, und es bewegen sich die Lippen zu Worten, die aus den Tiefen seiner Seele herauftreiben:
“Scheue kein Pathos in Zeiten grauer Worte.
Scheue keine Gefühle in Zeiten der Kälte.
Scheue nicht die Liebe in Zeiten der Vereinzelung.
Scheue nicht die Lächerlichkeit in Zeiten mörderischen Ernstes.
Scheue nicht den Ernst in Zeiten zynischer Verleugnung.
Scheue nicht die Naivität in Zeiten von Kinderlosigkeit.
Scheue nicht die Zuversicht in Zeiten der Verzweiflung.
Scheue keine Revolution in Zeiten lähmender Erstarrung.
Scheue keine Barrikade in Zeiten schweigender Missachtung.
Scheue keine Weisheit in Zeiten der Unvernunft.
Scheue keine Meinung in Zeiten der Verneinung.
Scheue nicht den Wagemut in Zeiten der Angst.
Scheue nicht die Arroganz in Zeiten des Mittelmaßes.
Scheue nicht den Schritt nach Vorne am Rande des Abgrunds.
Scheue nicht die Ruhe in Zeiten der Beschleunigung.
Scheue nicht die Muße in Zeiten der Effizienz.
Scheue nicht zu scheuen und scheue nicht zu handeln.
Scheue nicht, in auswegloser Gegenwart den Notausgang freizukämpfen.”
Dann tritt er hinaus in Mitten der jubelnden Ränge, getragen von lauten Rufen im weiten Oval, die sich wie eine Stimme zum Himmel erheben:
“Nicht ein Lied wird je verklingen
Wenn wir noch gemeinsam singen
Nichts, das lebt, ist je verloren,
War aus Liebe es geboren
Nichts, das war, wird je vergessen,
Hatte es Dein Herz besessen.”
An die Waffen!
Zieht die Schwerter!
Der Kampf beginnt!