Der Baum ruht majestätisch, ein Immerdawesen, erschaffen aus Licht und Luft. Er herrscht über den Platz und das unter ihm liegende Camp. Sonne, Wind und Wolken kennen ihn beim Namen und rufen ihn ‚große Linde‘. Regenbögen ziehen über der großen Linde auf, nur, um ihre Blätter zu berühren.
Vögel fliegen weite Strecken über die eben darniederliegenden Felder, um ihre Schnäbel an den feinen Zweigen zu reiben. Greifvögel kreisen über der Linde, um ihren sanften Atem wie einen Hauch durch das Gefieder streifen zu spüren. Eichhörnchen schauen von den anderen Bäumen mit wippenden Schwänzen herüber, Ehrfurcht in den großen Augen, putzen ihre feinen Schnäuzchen, bevor die Pfoten das Geäst der Linde berühren. Die Maulwürfe unter dem mächtigen Gezweig der Wurzeln schmiegen sich aneinander und in ihren Träumen sehen sie die Wolken über einen warmen Sommerhimmel wie eine Herde Schafe nach Osten ziehen. Dann weinen sie kleine Tränen vor Glück.
Unter der Linde ist keine Dunkelheit, denn selbst im Winter duftet es nach einem frühlingsgrünen Wolkenlostag. Unter der Linde ist keine Stille, denn niemals verstummt der Tropfenklang eines seidenweichen Frühsommerregens. Unter der Linde ist jede Zeit immer da, die Stunden der Liebenden, die Minuten der Geburt, die Wochen der Kinderspiele, die Monate des jahreszeitlichen Bauerntagwerks, die Jahre des hinwegalternden Lebens, die Sekunden des Todes, das Welken des Körpers bis zum Schließen des Sargdeckels. Soviele Gesichter alterten unter der Linde, soviele Stimmen verstummten durch die Jahrhunderte. All die sehnsuchtsvollen Küsse und wutgetriebene Schlägereien, die wilden Kinderspiele und das Stille betrachten der Wolken durch das verzweigt Geäst, alles findet sich unter der Linde wieder in dem magischen Raum zwischen Erde und Himmel, als ließen sich die fern in die Zeit geschriebenen Geschichten durch die Luft einatmen.
Jahrhunderte in Regen und Sonnenschein, in Tag und Nacht, haben der großen Linde alles gelehrt, was sie wissen muss. An diesem Ort sind nur nur die Erde und die Gestirne älter als dieser Baum. An diesem Wintertag vor der großen Linde zu stehen und seine Hand auf die grüne Rinde zu legen ist ein letzter Gruß:
„Du wirst sterben. Die Menschen werden Dir den Kopf abschlagen, Deine Gliedmaßen abtrennen, Deine Füße aus den Boden reißen. Dein Körper wird in die Stahlmaschinen gepresst, um Dich zu einem Schrot aus Holzhäksel zu zermahlen. Du wirst weder schreien noch bluten. Für uns Menschen wirst Du dieses frevelhafte Verbrehen stumm über Dich ergehen lassen. Deine Vögel werden Dich da schon längst verlassen haben, um sich einen neuen Schutzraum zu suchen, wurden sie doch vertrieben vom Lärm der öltriefenden Stahlgetüme, die sich austoben werden an Deinem Holz.
Du wurdest gepflanzt von guten Menschen, als wir einen Moment in unserem Schlachten und Zerstören inne hielten, vor Jahrhunderten, als das Blut noch frisch auf den Äckern lag und das Leid noch nicht aus den Erinnerungen verschwunden war. Du warst verknüpft mit dem Gedanken an Frieden und Hoffnung und Zukunft. Und als das Schlachten und Zerstören wieder einsetze und Jahr für Jahr schlimmer wurde, wuchsest Du heraus und hinauf in einen Himmel, der Dich segnete mit der Kraft eines gewaltigen Baumes. Du warst immer da und allen war es gut. Tropfen küssten Dich. Regenbögen grüßten Dich. Sterne sangen für Dich. Morgenröte leuchtete für Dich. Frost schmückte Dich und Hagel ließ Dich nicht erzittern und Sturm konnte Dich nicht brechen.
Zwischen Deinen Wurzeln und Deinen Wipfeln waren wir Kinder, die in den Schaukeln hin- und her schwangen. Wir waren kühne Architekten, die sich Hütten in Deinen Ästen erbauten. Wir waren Schutzsuchende vor dem Wetter, denen Du den Regen fern hieltest. Wir waren Umherirrende, denen Du als Landmarke in dieser einförmigen Landschaft dientest.
Du hast uns viel gegeben und wir, die wir Dich bei uns fühlten, werden Dich nicht beschützen können.Ich lege meine Hand an Deinen Stamm und wünsche, dass Du meine Trauer und meine Verzweiflung spürst. Ich möchte Dich um Verzeihung bitten für all das, was ich nicht leisten kann, und für all das, was wir Menschen Dir antun werden.“
Alles wird stumm. Nichts lebt mehr in diesem Moment. Die Welt taucht ein in eine unendliche Dunkelheit. Der Tod dieses Baumes ist eines der vielen Verbrechen, die ungesühnt bleiben. Ein letztes mal berühren die Lippen den Baum – um nie wieder darüber zu schweigen.
„Wo des Winters unsret Herz
De dunkle Schatten widerstand
Blühts des Frühling wieder frisch
Mit junge Blüte auffe Land“
Lausitz, um 1740
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