Die Mahnwache

„Wem an diese Orte net
die Träne rinne,
Het nich een Herz und wird
Och niemals eens gewinne.“

Frankenhausen, 20. Mai 1525

Orte des Widerstandes wurden zahlreicher im Jahr der großen Linde, doch keiner ist wie dieser. Die Banner an der Mahnwache rufen ‚Wehr Dich!‘, die Schilder schreien ‚Trau Dich!‘, die Bänke unter dem Pavillion-Dach flüstern ‚Setz Dich!‘. Wie der stählerne Bug eines Eisbrechers ragt die Mahnwache hinaus über den Abgrund, allen Wettern trotzend, die an wilden Tagen rücksichtslos über das flache Land rasen. Hier gehen die Lichter nicht aus, egal wie laut die Maschine brüllt. Von hier aus lässt sich hoffnungsfroh warten auf den Regenbogen nach dem stürmischen Schauer, auf das erste Himmelblau nach dunkler Regenwand, auf den Zug der Kraniche nordwärts nach den harten Wintertagen.

Die Wut über die Zerstörung, den Abgrund, die Maschine lässt sich in eine Tasse hineinhauchen, von klammen Fingern umschlungen, dass ein warmer Kaffeewolkenduft aufsteigt. Von der Mahnwache geht der Blick nach Osten, erwartungsfroh, dass die frühe Sonne mit rotem Grollen über den Horizont aufzieht, um sich den Schleiern der zarten Morgennebel zu entledigen, ehe sie den Abgrund in ein mitleidiges Rot taucht:

„Atme die Luft an diesem Ort, ein Schweigen erzählt mehr als jedes Wort, wie eine Welle rollt die warme Stille auf Dich zu, langsam tauchst Du ab und die Gedanken kommen zur Ruh. Die Wolken ziehen durchs Zenit und in den Pfützen spiegeln sich die bunten Mützen, an denen der Wind beharrlich zerrt und rauschend durch die Sträucher fährt. Leise fließt der Strom der Stimmen, Menschen scheinen fremd vertraut an diesem Ort, der – nie zu laut – auf Asphalt gebaut wie eine Rettungshütte am Inselstrand alles Treibgut fest vertaut.“

Beharrlichkeit ist das Wort, das sperrig über der Mahnwache ruht, zu grimmig im Ohr erklingt, um das Besondere dieses Ortes widerzuspiegeln. Unverzagtheit erklingt weich, nett, zu nett, denn der Begriff verschleiert die kraftvolle Energie und die wagemutige Leidenschaft, mit der sich hier der Zerstörung entgegengestellt wird wie nirgendwo sonst in diesem seelenlos verlorenen Land. Beseelt erscheint dieser Ort von einem Geist des Widerstandes, der über die Menschen, die die Mahnwache mit ihrer Hingabe tragen, hinauswächst.

Ungerührt lässt niemand die Mahnwache hinter sich. Jeder Besuch hinterlässt eine Spur, gefärbt in Trauer oder Zuversicht, in Mutlosigkeit oder Hoffnung, in Verzweiflung oder Kampfeslust. Es ändert sich der Blick auf die Zeit, die durch das eigene Leben hindurchrauscht, insbesondere darauf, wie sehr man bereit ist, einen Teil von sich selbst in den Kampf gegen die Maschine hineinzuwerfen. Die Gedanken im Kopf nehmen andere Bahnen und finden ihren Weg zu den Überlegungen einer hingebungsvollen Leidenschaft, die sich wie ein goldenes Fadengespinnst in das eigene Leben hineinwebt. In der Dunkelheit, die sicher kommen wird, in dieser Dunkelheit, die sicher wiederkehrt, ist dann der warme Schimmer des Webmusters zu sehen, was tröstlich durch diese gottverdammte Dunkelheit hilft:

„Ich höre den Gesang, Gitarren, sehe den Regenbogen, rieche den wegziehenden Regen über dem feuchten Land, die Wärme der Sonne, die den Asphalt vor der Mahnwache abtrocknet, strecke mich aus und blicke hoch zu den Wolken, unter denen ein Falke kreist. All das bleibt beim mir und niemand nimmt es fort. Es entfesselt meine Schwingen und bindet mich an diesen Ort.“

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