Der Abgrund

Die Vorstellung von Tiefe ändert sich grundlegen, wenn der Blick von der Kante in den Abgrund hineinfällt, Terasse um Terasse, Sohle um Sohle, eine rasanter Absturz durch die Äonen der Erdgeschichte. Das mögliche Ausmaß an Zerstörungswut, die in dunklen Seelen toben kann, offenbart sich bei der Betrachtung der unzähligen Bodenschichten, die in schmerzhaft obszöner Nacktheit übereinander liegen und sich schutzlos entblößte unter dem kalten Wind ausbreiten. Aufgebrochen sind diese Erde und ihr gutes Ackerland, ihrer Würde gewaltsam beraubt und achtlos weggeworfen als totgenutzte Hinterlassenschaft am Rand der Autobahn auf dem Weg zur Auslöschung der Zivilisation.
Die Ahnung von Zukunftsverlust wächst zu einer großen schwarzen Wolke, die sich mit einem Geruch von heißem Teer auf jeden einzelnen Gedanken legt. Alles, was sich im Kopf abspielt, ist von einem Moment auf den anderen wie beschmutzt, verseucht, vergiftet und geschändet. Lieder zersplittern zu schwarzgeschmolzenen Tränen, Gedichte zerfallen zu grauer Asche, die Tänzerinnen stürzen in den Abgrund und ihre zerschmetterten Leiber werden begraben von der abreißenden Kante, die grollend in die Tiefe rutscht. Es ist die Ahnung vom Absterben jeder Menschlichkeit, die mit knochenbleicher Kälte ans Herz greift, und es breitet sich die Angst aus, dieses Gefühl würde nie wieder verschwinden.

Dem Atem der Vernichtung, der vom Abgrund heraufweht, kann hier nichts mehr entgegen gesetzt werden.

Hier als Mensch zu stehen, Maß und Richtung zu verlieren, den Himmel in den Abgrund sinken zu sehen, die Wut in sich aufsteigen zu fühlen wie eine rote Welle glühender Lava, die Fußspitzen so gerade noch auf der winterlichen Grasnarbe, während das Grausen der Tiefe von den Zehen über Rückgrat in den Hinterkopf hinaufkribbelt – doch, das ist in Ordnung. Denn es gibt keinen Ort, der für einen durchschnittlichen Menschen erreichbar wäre, an dem die Selbstzerstörung der eigenen Spezies so unmittelbar erfahrbar ist mit allen Sinnen – und dazu noch der Adrenalinkick der Höhe über der tiefen Sohle des Tagebaus.

Eisig geht der Wind über die Kante. Stühle stehen, liegen verstreut herum, Menschen hocken sich nieder und schweigen in die Tiefe hinein, so dass sich ein sprachloses Entsetzen aus den Bildern herauslesen lässt. Richtung Süden hängt ein bunter Drachen an einem kurzen Seil. Es kreist eine Krähe über dem Abgrund, dreht ihre Kreise zwischen den grauen Winterwolken und dem frisch aufgerissenem Lößboden. Der Bote des Todes lenkt seine Flugbahn spielerisch mit den Spitzen seiner schwarzen Schwingen. Für einen Moment wird alles noch stiller über der Verwüstung, als der Vogel einen dumpfen Krächzlaut ausstößt und hinabtaucht unter die Abbruchkante.

Die Heimstatt der Vernichtung unserer Zivilisation ist ein Baggerloch am Niederrhein, über das die Vögel des Todes ein schwarzes Schwebeballett aufführen, dem die Kindes des Regenbogens ihre kampfbereite Verzweiflung entgegenstellen.

„Noch labten Krähenvögel sich
am dampfend Fleisch der Toten
Da fürcht‘ sich schen des nächsten Dorf
vor Krieges grausen Boten.“

bei Magdeburg, um 1640

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