Die Anreise

Der Regionalzug entfernt sich in ein frühes Tageslicht, das sich mühsam den Weg durch die tiefen Wolken bahnt. Die Pflastersteine des schmalen Bahnsteigs liegen schief und verborgen unter morgenreifbleichen Grashalmen. Die Stille zwischen den wenigen Häusern, die sich um den Bahnübergang wie Frierende aneinander ducken, verstärkt die Kälte.

Der Morgen ist ein guten Morgen, wenn kein Eis auf den Pfützen liegt. Wenn die Fahrradreifen den grauen Firnis an den Banketten neben den asphaltierten Radwegen zerbrechen müssen, ist der Boden zwischen den Feldern gefroren. Heute spritz Wasser, das von den Reifen hochgeworfen wird, gegen Schuhe, Hose und Fahrradrahmen. Der Nebel liegt mit kalter Schwere auf der Landschaft, kriecht eisig unter die Kleidung bis an die Haut. Der Fahrtwind schnitzt mit blauem Messer Grimassen ins Gesicht, während die Wegstrecke vorbeiführt an den braunen Wällen aufgehäufter Zuckerrüben, die nach der Ernte am Rand der Äcker noch auf den Abtransport warten.

In der Ferne sind Baumgruppen und Windräder eingehüllt in eine graue Eiswatte, die in zäher Erstarrung jede Regung in einen Stillstand zwingt. Die Bewegungen der Zweige, die Drehung der Windradflügel und das Schleiern der Nebelschwaden sind in Reglosigkeit eingefasst, als wäre ein trübes Kunstharz in die Landschaft hineingegossen worden, um die Erstarrung der Zeit selbst augenfällig vorzuführen. Vom schwarzen Strommast fällt ein Habicht herab, der gequält seine Schwingen aufspannt und sich unter Mühen auf die kältetrübe Luft legt mit schwerem Flügel, um Schlag für Schlag wieder an Höhe zu gewinnen. Hasen hocken geduckt in den Furchen der Felder, Fasane dauern im Unterholz der Winterhecken.

Die Landschaft unter diesem Bild der Erstarrung streckt sich in sanften Wellen aus bis zu den Wolken und Nebeln, unter denen der Horizont versunken ist, da das Grau des Winters in zähen Schlieren aus dem bedeckten Himmel auf den Reif der Felder überfließt. Der Rhythmus des Hebens und Senkens der Ackerflächen gibt dem Land Struktur, sorgt für Orientierung, prägt Landmarken aus zwischen den Kirchtürmen und Straßenkreuzungen. Immer wieder lässt sich Schwung holen in der Abfahrt, um die nächste Anhöhe auch in einem hohen Gang der Nabenschaltung überwinden zu können. Der Rucksack wärmt den Rücken und der Atem dampft in der Winternebelluft.

Es dauert eine Zeit, bis sich das Ziel, die Landmarke im Osten, aus dem wolkengrauen Wintermorgenlicht herausschält, da der letzte Ort vor dem Abgrund hinter dem Rücklicht schon wieder in Trübnis einsinkt. Die alte Landstraße führt hier noch entlang der Kohlengrube, bevor im Norden die Maschine sie bereits aufgefressen und verdaut hat. Oben auf der Anhöhe sind der Alte Hof zu erkennen, die markante Pappelreihe, die alte Linde. Es geht vorbei an zu Trümmern geschlagenen Häusern, die sich vergebens der Maschine erwehrt hatten und bereits untergegangen sind. Der Eiswind wird kälter.

Hinter der Kuppe des Anstiegs versperrt das Tor den weiteren Weg zum Weiler. Metallgitter queren die Straße zwischen den Holztürmen, dahinter sind Barrikaden im Aufbau zu erkennen. Eine Konstruktion aus Seiltraversen und Holzkreuzen gibt dem Tor seinen kühnen Halt, als müsse sich dieser waghalsige Aufbau mit aller Kraft gegen eine Erstarrung, einen atemlosen Stillstand stemmen, der langsam und drohend die Anhebung hinaufkriecht, um Zug um Zug alles Lebhafte zu erfassen. Blickt man zurück in die Landschaft, steht es sich hier wie auf einem  Aussichtsposten auf eine Welt, die in gespannter Erwartung zu diesem Ort hinaufblickt:

“Willkommen in Lützerath”
(zone à défendre)

Prolog | Die Kapelle