„Laßt uns nie aufhören, davon zu erzählen, wie wir gekämpft haben, denn im Erzählen überdauert uns unser Kampf.“
Pelepones, 1. Jhd. v. Chr.
Was werden wir uns erzählen, wenn unsere Haut faltig und unser Atem grau geworden ist? Wenn unsere alten Blick sich müde begegnen, meine Hand nur noch kraftlos in Deiner liegt, um Dich vielleicht zum letzten Mal zu spüren? Wenn alle Schlachten geschlagen sein werden, alle Argumente ausgetauscht wurden und jedes weitere Wortgefecht nur noch ermüdend sein wird unter der tödlichen Hitze eines Oktobertages?
Vielleicht werden wir uns von jener fernen Zeit erzählen, dem letzten Jahr der großen Linde. Von dem jahrhundertealten Baum des Friedens, in dessen Zweigen sich unsere Kinder Hütten gebaut hatten, um wilde Herzen an die starken Äste zu hängen und junge Träume von den Wipfeln des mächtigen Baumes in den Wind zu werfen. Wir könnten uns an jene Zeit erinnern, als wir noch Gletscher in den Bergen zählten und gutes Wasser durch die Flußbetten fließen sahen.
Woran werden wir uns erinnern, woran werden wir uns erinnern wollen, wie werden wir erinnern? Werden unsere Erinnerungen vor Mutlosigkeit und Verzagheiten zittern wie der Spatz vor dem dunklen Schatten des Bussards? Oder werden uns die fernen Bilder in Tapferkeit entgegenbrausen wie ein warmer Frühjahrssturm? Werden wir noch, leise singend, uns der Lieder erinnern, die uns in Regen, Sturm und Kälte Mut gemacht hatten? Werden sich unsere Zungen noch an dem Geschmack der Erde erinnern, die als hellbrauner Schlamm unsere Gesichter bedeckt hatte?
Der Dreck auf unseren Stiefeln und Hosen wird längst zu Staub getrockent worden sein, den der Wind fortgeweht hat. Viele der guten Menschen aus dem letzten Jahr der großen Linde werden unter die Erde gegangen sein. Viele Gesichter aus dieser Zeit werden uns nicht gealtert scheinen, denn sie wurden uns Erinnerungen mit wildem Lachen und ungewaschenen Haaren, die langsam verblassten.
Vielleicht werden wir noch gemeinsam lächeln über die kleinen Ängste, die sich uns auf den richtigen Wegen entgegengestellt und die wir kühn wie ein kleiner Gebirgsbach durchflossen hatten. Wir könnten Namen mit unseren Lippen formen von Mitkämpfenden, die größere Herzen hatten als wir beide zusammen und alles aus ihrem tapferen Leben in den Kampf hineingeworfen hatten – und die doch zerschellen mussten in den schweren Wassern jener ungeheuren Sturmzeiten. Es wird dann keine Rolle mehr spielen, wer von uns in Tempeln eingezogen war oder sich in Verzweiflung an der Rändern dieser Welt verloren hatte, ist doch jene Landmarke längst wie ein Brandzeichen unseren Biographien eingeprägt worden.
Das letzte Jahr der großen Linde ist uns eingeschrieben, in die Linien unserer Handflächen, in den Gesten, die wir uns zuwerfen, in den Worten, die wir wählen, wenn wir uns Nachrichten zusenden, in den Liedern, die wir aus dem unendlichen Strom der Musik auswählen, in der Art, wie unsere Hände ineinander greifen und unsere Lippen sich im Kuss berühren. Wir erkennen uns in den Blicken, die das Frühlingsgrün des mächtigen Baumes widerspiegeln. Jedes Blatt ein Wort, jeder Zweig ein Satz, jeder Ast ein Absatz. Diese große Linde wächst weiter. Jeden Tag, an dem wir davon schreiben, reden, singen, tanzen und träumen.
Wir sind dieser alte, mächtige Baum, der nie sterben und immer bleiben wird. Wir werden vom letzten Jahr der Linde erzählen, da unsere Worte, älter geworden als wir selber, immer noch jung erscheinen werden, da die Feuer unserer Herzen selbst in die dunklen Stahlhöllen das Licht hineintragen werden, da nichts und niemand unser Schweigen erzwingen kann.
Lasst uns erzählen.
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