„Was wäre, wenn …“

Leander saß auf dem Drehsessel vor dem Konsolentisch, beugte sich konzentriert über die Tastaturen und kontrollierte die Datenströme, die bunt durch die zahlreichen Fenster liefen im Halbkreis der Monitore. Hinter ihm schlich Leroy auf und ab wie eine Ratte, die gerade in einen Käfig gesperrt worden war und nun hektisch nach einem Ausweg suchte. Während Lena die Verkabelung zur Kammerwand nochmals abtastete, öffneten sich die automatischen Schiebetüren mit einem Gänsehaut-Kratzen. Lane kam mit zwei Tassen synthetischen Kaffees ins Labor und stellte eine Tasse stumm neben Leanders Platz an der Haupttastatur.

Der übergroße Bildschirm an der rechten Wand zeigte den eiförmigen, metallisch glänzenden Behälter im Innenraum der Kammer, eingesponnen in ein Netzwerk aus Kabeln und Anschlüssen, in mehreren Schwarzweißbildern aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Doch niemand schaute auf die übergroßen Fernsehbilder, alle starrten Richtung Kammerwand und Konsole. Endlich trat auch Lena von der Wand zurück, stellte sich neben Lane hinter Leanders Rücken und blickte ebenfalls stumm auf den Monitorhalbkreis.

Leander arbeitete weiter an der Tastatur, mit flackernd gehetztem Blick die Ausgaben verfolgend, bis die nächste Eingabesequenz eingetippt wurde. Nur das Klappern des Keyboard, Lanes Schlürfen an der Kaffeetasse und das elektrische Sirren der Lüftungsanlage des Siedlungsbunkers waren zu hören. Leroy blieb einen Moment stehen, kniff die Augen zusammen, wippte unruhig auf den Zehenspitzen, über Leanders hohe Schulter blickend, und rieb die Zeigefinger entlang tief hängender Augensäcke. Dann setzte er seine unruhigen Laufweg wieder fort. Lena lehnte sich an einen zurückliegenden Monitortisch im hinteren Bereich des Labors, ohne einen Blick von der Hauptkonsole zu nehmen, und verschränkte die Arme vor der Brust, so dass die beiden eintätowierten Schlangen auf ihren Unterarmen sich in einer Gegenbewegung aneinander schmiegten. Lanes Finger tanzten nervös zwischen der dunkelgrünen Halskette und den grauen Rüschen ihres T-Shirts.

Endlich hielt Leander inne, ließ den Zeigefinger noch einmal über der Tastatur schweben, den Atem für eine Sekunde anhaltend, um ihn wie ein abstürzende Fledermaus auf die Eingabetaste niederfahren zu lassen. Dann griff er wortlos die Tasse rechts auf der Arbeitsfläche, aus der graue Wärmewölkchen aufstiegen, strich sich mit der linken Hand über die Rückseite des kahlrasierten Schädels und lehnte sich zurück in das abgewetzte Grau seines Drehstuhls.

Leroy stand wie angewurzelt, wippte erdmännchengleich auf der Stelle. Niemand rührte sich oder sprach ein Wort. Unsicher schleichend näherte er sich Leanders linker Seite.

Und?“

Leander stellte die Tasse wieder ab, stütze das Kinn auf seine rechte Hand, den Ellenbogen mit der linken umfassend. Bedächtig streichelte er den Bart an seinem Kinn, den Blick beharrlich auf die Konsole gerichtet.

Die Forschungsabteilungen in den Bunkersilos von Murmansk und Kobe haben die Ergebnisse bestätigt.“

Leroy stöhnte und blickte zur Decke hinauf, deren durchlöcherte Kunststoffverkleidung den Blick freilegte auf Lüftungskanäle, die braun vom Rostfraß sich durch den Raum zogen.

Was wurde bestätigt?“

Behutsam tasten Leanders Finger die Tasse ab, ohne dass der Programmierer seinen Blick von den Bildschirmen abschweifen ließ.

Wir haben zum einen den vollständig identischen Zerfall des Elementarteilchens beobachtet. Und – wir haben die Variation des Zerfalls ebenfalls beobachtet – und zwar exakt so, wie von Lane berechnet.“

Leander drehte sich um, schaute einmal in die Runde der drei Gesichter hinter ihm mit einem Grinsen, das seine gelben Zahnstümpfe erkennen lies, setzte die auf die Stirn hochgeschobene Sonnenbrille wieder auf die Nase und blickte hinauf in das grelle Leuchten der Lampe über ihm.

Uns ist es gelungen, die dunkle Energie derart zu kontrollieren, dass eine gezielte Veränderung nicht nur parallel sondern auch othogonal zu den Multituden der Zeitachsen im Zeit-Raum-Kontinuum möglich ist.“

Leroy ballte triumphierend die Faust, Lane und Lena fassten sich zärtliche an den Händen und blinzelten sich zu. Leander dreht sich zurück zur Konsole.

Ich warte noch ab, ob wir auch zu den übereinstimmenden Ergebnissen beim Energieeinsatz kommen. Aber auf den ersten Blick würde ich sagen, dass sich auch hier Lenas Berechnungen als richtig erwiesen haben. Wir brauchen lediglich die halbe Leistung von dem Reaktorkern des U-Boot-Wracks in Vancouver abzapfen. Damit haben wir auch diesen Ressourcenverbrauch optimiert.“

Lane wies auf eine Zeile, während sie mit der linken Hand die dunkelgrüne Perlenkette um ihren Hals herum zerrte.

Kritisch ist noch die Rechnerleistung. Wir werden auch die Wohnsilos in Zentral-Australien und der östlichen Sahara hinzu schalten müssen, wenn wir Trajektorien dunkler Energie für planetare Objekte berechnen wollen.“

Leander nickte stumm, leerte seine Kaffeetasse und drehte sich zu Leroy.

Leroy – was ist los?“

Eine feine Tränenspur war auf Leroys linker Wange sichtbar.

Ich bin – überwältigt. Von Freunde. Und von Ehrfurcht. Diese Entdeckung ist der Funken Hoffnung, auf den wir seit Jahrzehnten hingearbeitet haben.“

Leroy hielt einen Moment inne, in dem Leander zum Sprechen ansetzen wollte, doch unter dem Wink Leroys wieder verstummte. Dann ballte er beide Fäuste vor seiner Brust.

Es ist ein großer Moment. Wir Menschen haben wieder einmal gezeigt, dass wir auch in existenzbedrohenden Krisen zusammen halten und große Leistungen vollbringen können.“

Langsam umrundete Leroy den Konsolentisch, an dem Leander saß, wobei seine Finger über die im Lauf der Jahrzehnte stumpf geriebene Plastikoberfläche strichen. An den Ecken der rechteckigen, schreibtischgroßen Fläche waren Teile des Plastiks bereits zersplittert. Zahlreiche Steuerelemente waren nicht mehr vollständig, da nur noch vergilbte Plastikstile ohne Tastaturbauteil oder Handgriff heraus ragten.

Leroy rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander, als müsse er die Fingerspitzen von Dreck befreien.

Uns allen ist klar, was dieses Ergebnis bedeutet: Eine Zeitverschiebung – eine Schicksalsdrift – ist möglich. Damit hätten wir die Möglichkeit, den fatalen Entwicklungspfad, auf den sich die Menschheit eingelassen hat, doch noch einmal zu korrigieren.“

Leander räusperte sich und setze mit lauter Stimme ein.

Und wann wolltet ihr die fröhliche Nachricht unter die Bevölkerung bringen, dass das Ende der Menschheit nun dank eines Taschenspielertricks ausfällt?“

Das Polster auf Leanders Stuhl war eingerissen, so dass das dunkelgrüne Innenmaterial unter dem grauen Bezugstoff hervorquoll. Seine Hose war fleckig und an den Taschen eingerissen. Leroy kratzte sich über seinen kahlen Schädel, dessen Haut von einer Pilzinfektion schuppig und rot aufgerissen war. Seine spitze Nase witterte hektisch in die abgestandene Atemluft.

Niemals. Wir werden wie mit dem Major Government besprochen kein Wort über die Ergebnisse und das Vorhaben verlieren. Was wir hier tun, dient dazu, das Überleben der Menschheit zu sichern. Und wenn wir dazu die Raumzeit vergewaltigen müssen.“

Noch einmal hielt Leroy inne, wieder hatte er eine Hand zur Faust geballt. Lane war nah an Lena gerückt, so dass sich ihre Schultern leicht berührten. Beide schwiegen die Männer an.

Und ich erwarte, dass sich jeder in diesem Raum an die Anweisungen hält.“

Leander zog die Augenbrauen hoch, schaute zu Lane und Lena herüber, ihre Gesichter fixierend, und ließ den Blick langsam zur Beobachtungskamera wandern, die grobschlächtig in die Betonwand gehauen worden war vom Sicherheitsdienst. Mit einem Ruck stemmte er sich aus dem Stuhl und streckte sich zur vollen Größe hoch, wobei er träge auf die Köpfe der anderen herunterblickte.

Ich weiß ja nicht, was Ihr vor habt. Aber auch so ein Zeitding sollte man ausgeschlafen angehen. Lassen wir den Freunden auf der anderen Seite des Planten die Zeit, das Ergebnis nochmals zu kontrollieren.“

Leroy schien für einen Augenblick in sich zusammen zu schrecken, ehe er unter einer fahrigen Armbewegung die Sprache wiederfand.

Nun gut. Dann machen wir den üblichen Schichtwechsel. Lena, Lane, ihr bleibt hier vor Ort und steht für Rückfragen aus den anderen Siedlungs-Laboratorien zur Verfügung. Ich werde die Sitzung vom Major Government vorbereiten, um die Freigabe für den Zugriff auf die nötigen Ressourcen zu erhalten. Lane, ich benötige von Dir noch eine Abschätzung der Rechnerkapazität, die wir ja noch zusammenschalten müssen.“

Leander war indessen Richtung Tür geschlurft und hatte Leroy wie eine Bugwelle auf den Ausgang hin vor sich her geschoben. Lena lehnte immer noch stumm am Konsolentisch, wo der verschlissene Saum des herunterhängenden T-Shirts auf dem ledernen Werkzeuggürtel und ihren Oberschenkeln lag, die in einer zerrissenen, viel zu großen Cargo-Hose steckten.

Mit einem kräftigen Fausthieb löste Leander den Mechanismus aus und mit lauten Kratzen öffneten sich die Sicherheitstüren. Während er zum Abschied die Hand hob, ohne sich nochmals umzusehen, murmelte Leroy noch etwas unverständliches. Doch ehe Lane nachfragen konnte, hatten sich die Türen wieder bedrohlich kreischend geschlossen.

Die beiden Frauen waren alleine in der Schaltzentrale des Hochenergielaboratoriums, beobachtet durch die Kamera eines Sicherheitsdiensts, irgendwo in den unterirdischen Funktionseinheiten eines riesigen Bunkerkomplexes unter dem Alpenmassiv, der eine letzte Zufluchtstätte geworden war für die wenigen mitteleuropäischen Überlebenden der schleichenden Auslöschung, die bereits vor Jahrzehnten die Menschen von der Oberfläche des Planeten vertrieben hatte.

Lena stieß sich vom Schaltpult ab und noch ehe sie einen Schritt nach vorne machen konnte, hatte Lane sich umgedreht und war auf sie zugekommen, so dass sie sich in der Mitte des Raumes, zwischen all den Pulten, Konsolen, Monitoren, Regalen und Tischen trafen, auf denen der Staub von jahrzehntelanger Forschung sich in ehemals glatten Aluminumoberflächen derart hinein gebrannt hatte, dass deren metallischer Glanz nun unter einer milchtrüben Schicht veraltet und begraben lag.

Beide hoben zeitgleich die rechte Hand und strichen sich gegenseitig zärtlich über die haarlosen Schädel, deren Haut frisch und rosig glänzte. Zärtlich umspielten die Finger die Ohrmuschel der jeweils anderen wie in einer eingeübten Choreographie, und als die Hände über den Hals hinabglitten, um auf der Schulter des Gegenüber zum Abliegen zu kommen, war der Telekontakt über die gerade in die Ohren eingesetzten MindSets hergestellt. Sie schlossen kurz die Augen und spürten sich.

Lane zupfte mit den grünlackierten Fingernägeln wieder nervös an den Rüschen ihrer grauen Bluse und hektisch gingen ihre Augenlider, als sie Lenas Stimme direkt in der Mitte ihres Schädels hörte, und für einen Moment länger genießerisch die Augen geschlossen hielt.

Lane, ich bin bei Dir.

Lena.“

Mit einem tonlosen Seufzer öffneten sich Lanes Lippen.

Vertraust Du mir?“

Ich liebe Dich, Lane.

Aber vertraust Du mir auch?

Lane trat nah heran und legte ihren Kopf sanft auf Lenas Brust ab. Die Technikerin senkte den Blick und drückte sanft einen Kuss auf Lanes Schädel.

Lena – Du bist die Brücke, die mich auch über den reißenden Strom trägt. Nichts fürchte ich, denn Du bringst mich sicher ans Ufer

Der Raum ließ das elektrische Brummen der Lüftungsaggregate für einen Moment noch lauter klingen, ehe die beiden Frauen sich wieder voneinander lösten, um an die beiden Konsolen zurück zu kehren, wo sie auf die träge durchlaufenden Statusinformationen starrten. Lane setze sich auf den grauen Drehsessel und schob ihn an den Tisch heran, während Lena die Helligkeit der Beleuchtung am hinteren Konsolentisch herunter regelte, so dass ein schweres gelbes Licht den Raum nur noch mühsam ausleuchtete.

Die im ExperimentalNetz verknüpften Forschungsgruppen waren noch immer mit der Auswertung der Daten beschäftigt. Lane tippte gelegentlich Antworten in die Chat-Kommunikation der Wissenschaftler hinein, während Lena sich in ihrem Stuhl zurück lehnte, an die von Schlieren und Flecken durchzogene Decke starrte, auf Unregelmäßigkeit in den Schwingungen des elektrischen Äthers lauschend. Irgendwann beugte sie sich gelangweilt nach vorne, um das knochige Kinn auf die kräftigen Hände abzustützen.

Lena kniff die Augen ein wenig zusammen und fokussierte ihren Blick auf die Linie der Wirbel direkt unter dem Schädel ihrer Partnerin, mit dem MindSet in stummer Erwartung auf die Sprechgedanken Lanes lauschend. Lane konzentrierte sich auf die Bildschirmanzeigen, bis sie mit einer raschen Armbewegung ihre Fingerspitzen über den Nacken fahren lies, den Kopf zur Decke wandte, die Hand auf der Schulter verharrend.

Lena! Was wäre, wenn …

Lane blickte nicht auf von ihrem Bildschirm. Das Surren der Schaltkreise schwebte ununterbrochen im Kontrollraum.

… wenn wir zurückschrecken würden von unserem Plan?

Lena erhob sich, schlenderte lässig herüber zu Lane und legte ihre kräftige Hand derart auf den Nacken der Mathematikerin, dass sich die Finger der beiden ineinander verschränkten.

Warum sollten wir einen Plan verwerfen, den Du Dir ausgedacht hast? Bist Du Dir nicht mehr sicher, dass es funktionieren wird?

Bevor Lane antworten konnte, mussten wieder Daten für die Berechnungen in den Himalaya-Höhlen bereit gestellt werden, die von den indischen Wissenschaftlern höflich, aber nachdrücklich eingefordert wurden. Nachdem der Datenverkehr freigegeben war, beobachtete Lane auf dem Monitor noch die Fortschrittsanzeige, während Lena mit einer Tänzerinnenlust an der eigenen Kraft zur Trennwand an der Experimentierkammer schritt, um sich dort an den Stahlbeton zu lehnen, Lena in den Blick nehmend.

Ich bin mir sicher, dass es funktionieren wird. Niemand kennt die Eigenschaften der Dunklen Energie so gut wie ich.“

Lena runzelte die Stirn, war sie doch von der plötzlichen Stimme Lanes überrascht.

Niemand der Restmenschheit würde das bezweifeln. Schon gar nicht ich, die ich dich dafür liebe und bewundere – in genau dieser Reihenfolge.“

Lane erwiderte den spöttischen Unterton mit einem Gesichtsausdruck, der sich mühsam ein Lächeln abrang.

Bisher haben sich alle theoretischen Vorhersagen durch die Ergebnisse in den Experimenten bestätigt. Ein Triumph des menschlichen Forschungsdrangs, so tief in das Geheimnis dunkler Energie einzudringen.“

Jetzt hörst Du Dich an wie Leroy mit Deinem Gerede vom Menschheitstriumph.”

Lane beugte sich nach vorne, strich mit spitzem Finger an der Oberkante des Monitorgehäuses entlang und zerrieb den Staub zwischen Daumen und Zeigefinger.

Ich habe berechnen lassen, wie wir mit optimalem Energieeinsatz den Planeten Erde retten können, indem wir eine othogonale Zeitaschen-Drift in der Potentailebene der dunklen Energie durchführen. Wohlgemerkt, eine Drift, die wir nur mit allen Reserven in den noch betriebsfähigen Überlebens-Silos stemmen könnten. Dazu werden wir die letzten Vorräte an Energie und Rechnerkapazität, die wir noch mobilisieren können, zusammenlegen müssen.

Lena konnte den Spott in ihrer Stimme nur mühsam im Zaum halten.

Oh ja. Wir haben den Planeten so sehr zerstört, dass wir nur noch die Wahl haben, in diesen elenden Erdhölen langsam zu krepieren oder einfach mal so die Zeit und damit die Geschichte der Menschheit zu verändern. Wirklich ein göttlicher Triumph.“

Lane wandte den Kopf zur Seite und betrachtete eines der seitlichen Regale, das aufgefüllt war mit zahlreichen elektronischen Geräten, die ihre Kabel und Platinen wie Gedärme aus aufgerissene Leibern von Verwundeten in einer erbarmungslosen Kriegsschlacht nach außen gestülpt hatten.

Es ist ein Akt der Verzweiflung ohne Plan B, aber immerhin ein Plan.”

Mit ernsthaftem Blick wandte Lane sich wieder Lena zu, die weiter mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand lehnte.

Eine kleine Verschiebung in der flachen Struktur der dunklen Energie wird den Fluss der Zeit derart verändern, dass wir auf einen stabileren Evolutionspfad einschwenken ohne eine schleichende Auslöschung der terrestrischen Biosphäre. “

Lena glitt an der Wand herunter, bis ihr Körper in einer Hocke zusammengefaltet war, den Kopf herunter gebeugt und das Gesicht unter den zusammengelegten Schlangenunterarmen verborgen.

Doch es gibt noch die andere Wahrheit.

Die Augen scheinbar auf die Monitore der Kommunikationsüberwachung gerichtet, nahm Lanes Blick den rasierten Schädel Lenas konzentriert in den Fokus, der, auf den Armen gebettet, wie schlafend auf den Knien abgestützt ruhte. Lane schloss die Augen, um ihre Stimme verständlich über das MindSet zu versenden.

Wie ich Dir bereits erklärt hatte, ist die Verteilung dunkler Energie nicht gleichförmig, sondern extrem komplex. Bisher sind diese Variationen in den Ergebnissen niemandem aufgefallen. Doch was unumstößlich gilt: Dunkle Energie ist so aufgebaut wie ein mehrdimensionales Gebirge. Genau so, wie man Anfang des 20. Jahrhunderts erkannte, dass die Schwerkraft die Raumzeit formt, so existiert eine Wahrscheinlichkeitskraft, die die Verteilung der dunklen Energie ausprägt. Man kann sich das in einer dreidimensionalen Analogie vorstellen: Es gibt extrem unwahrscheinliche Raum-Zeit-Trajektorien, die wir nur mit sehr viel Energie erreichen können. Andererseits laufen die unterschiedlichen Pfade durch die Potentialfelder dunkler Energie früher oder später wider auf einen Hochwahrscheinlichkeitspfad zusammen.

Was bedeutet, dass wir uns aktuell auf einem solchen ‘Pfad’ hoher Wahrscheinlichkeit befinden.

Genau. Wenn wir nur wenig verändern, also weit zurück in der Vergangenheit den Lauf der Zeit nur infinitesimal verändern würden – dann wirkt sich diese Änderung aber so unbedeutend aus, dass jede ferne Zukunft vom Änderungszeitpunkt wieder identisch ist – also wie vor der Änderung.

Lena richtete sich langsam aus der Hocke hoch, beugte den Rumpf herunter, bis die Handflächen bei durchgestreckten Armen den Boden berührten, ließ den Oberkörper leicht nachfedern, bis sie den Rumpf aufrichtete, um mit ausgestreckten Händen Richtung Decke zu greifen. Das Knacken von Wirbeln und Gelenken war deutlich zu hören über dem Teppich aus Technikrauschen.

Hör auf damit, Lena. Du weißt, dass ich Deinem Körper hoffnungslos verfallen bin.“

Mit wenigen kleinen Schritten tänzelte Lena an die Seite Lanes, huschte einen Kuss im Vorüberstreifen auf ihren Nacken, um sich dem Ersatzteile-Regal zuzuwenden, wo sie mit geübtem Griff in die metallischen Eingeweide hineinlangte, mit einer sicheren Bewegung den Steckprozessor von einer Platine ablösend.

Oder: Wir wenden viel Energie auf, führen eine grundlegende Änderung durch, und landen in einer Zukunft, die vollkommen anders aussieht. So anders, dass wir uns das nicht vorstellen können. Das ist doch Dein Plan?

Lena warf den Prozessor in die Luft, wo er sich drehend der gelbstichigen Plasteverkleidung an der Decke näherte, um beim Herunterfallen wieder sicher aufgefangen zu werden. Lanes Blick war immer noch auf die Monitore ausgerichtet und wieder spielten ihre Finger, nun leicht zitternd, mit den grauen Rüschen unter der Kette.

Mein Plan oder Deine Idee? Was weiß ich noch davon, wo es herkam. Was ich aber weiß: Wenn wir an einem optimalen Zeitpunkt eine othogonale Abweichung zu den Zeitachsen induzieren, dann kann auch eine vergleichsweise wenig energieintensive Änderung zu fundamentalen Abweichungen in der Zukunft führen. Man kann sich das so vorstellen, als würde man durch ein Gebirge wandern – und der Bergkamm vor einem stellt eine Wasserscheide dar. Kurz vor dem Gipfel fließt aller Regen Richtung Norden ab. Und dann, nach einer kurzen Strecke über den Kamm hinweg, die nur wenig Anstrengung kostet, fließt der Regen nach Süden, in einen anderen Fluss, Strom, Ozean.

Lena blickte hoch und schaute direkt in die Kontrollkamera, deren Gelenk mit einer rostigen Schraube in der grauen Stahlbetonwand befestigt war, und legte mit einer Zeitlupenbewegung den Prozessor zurück in das Regal, ohne den Blick vom Objektiv abzuwenden.

Und was wäre, wenn …?

Wenn wir UNSEREN Plan umsetzen würden, würde aufgrund der manipulierten Berechnungen die Schicksals-Drift rund 2 Millionen Jahre zurück ansetzen. Dann würde eine Raumzeit-Trajektorie ausgewählt, auf der eine leicht zitternde Homo-Linie der Evolution ausstürbe, bevor sie die Erde erobert hätte.

Spöttisch in die Kamera blickend, hob Lena die geballte Faust über ihren Kopf …

Die Rechnerkapazitäten erlauben nur eine Vorhersage von heute in die Zukunft ür 500.000 Jahre, aber lange vorher ist dieser Ort im Weltall ein Todesplanet – wenn der Homo Sapiens auftritt.

und streckte den Mittelfinger. Lane schaffte es, ein Seufzen im MindSet zu artikulieren.

Meine Berechnungen zeigen eindeutig, dass jeder Erhalt der Homo-Linie zwangsläufig den Planeten zerstören wird und damit am Ende, Milliarden Jahre, bevor die Sonne verglüht, die Erde ein unbewohnbarer Ort geworden sein wird.

Gleichzeitig drehten sich die Frauen herum, Lane in ihrem Konsolen-Sessel, Lena, die sich von der Kamera abwandte und wieder die Arme vor der Brust verschränkte.

Warum zweifelst Du, Lane?

Ich …

Nein, Du musst nichts sagen. Ich fühle ein silbriges Zittern in Deiner MindSet-Stimme, das mir Sorge bereitet.

Es ist so gewaltig, was wir vorhaben, Es ist …“

Erschrocken über ihre Stimme hielt Lane mitten im Sprechen inne, runzelte die Stirn und blickte betroffen zu Boden, als suche sie dort nach einer sinnvollen Satzendung.

… ist respekteinflößend.“

Respekt war ja nie so richtig ‘ne Stärke des Homo Sapiens.“

Wie auf Zehenspitzen schwebend kam Lena zurück ans Kontrollpult, legte die Hand sanft auf Lanes Schenkel, deren Finger sofort zugriffen. Mit der anderen Hand streichelte die Technikerin die Wange der Mathematikerin.

Wir alle, dieser klägliche Rest Menschheit, der in Bunkern, Höhlen, unter Felsen und Ozeanen, verstreut über den ausgemergelten Planeten vor sich hin vegetiert, nur noch Luft aus Entgiftungsmaschinen einatmet, Wasser aus künstlichen Reservoirs trinkt, sich von synthetischer Nahrung ernährt, die mühsam in Chemieanlagen zusammengerührt wurde – es ist, als liefen wir über eine zugefrorenes Meer, hinter uns brechen die Eisschollen zusammen und das Wasser droht uns zu verschlingen, und wir rennen immer schneller, so dass wir gerade immer wieder der Abbruchkante entrinnen können. Und hinter uns ist alles zerstört, und das ist nur der Tod im Eiswasser, den wir zurück lassen. Aber wir rennen nicht auf das rettende Ufer zu. Da ist keine Hoffnung mehr am Horizont. Da ist nur das Ende des Eises, das uns jetzt noch trägt. Verstehst Du, das Laufen gegen den Tod im Eiswasser ist sinnlos.

Aber all diese Menschen, die wir töten würden …

Abrupt beendete Lenas Hand das Streicheln, glitt hinab an den Hals und griff sich Lanes Nacken und Kette.

Wir töten niemanden, denn wir werden dafür sorgen, dass es uns nie gegeben hat. Wir werden diesen verheerenden Kreislauf aus Gier, Gewalt, Zerstörung, Hass dadurch beenden, dass es die Menschheit niemals geben wird.

Und was bleibt dann – von uns?

Lena gab die Kette frei, ließ die Fingerspitzen langsam an Lanes Hals hochgleiten, über das Kinn, bis zu ihren Mund, wo sie mit der Spitze des Zeigefingers die Lippen sanft öffnete, so dass das trübe Elfenbein der Schneidezähne sichtbar wurde.

Nichts – aber was verlieren wir schon? Der Krebs wird Deine Knochen in ein, zwei Jahren so weit zerfressen haben, dass Du nicht mehr wirst gehen können. Irgendwann werde ich auch anfangen, Blut zu pissen – auch, wenn ich nicht menstruiere. Von was für einem Leben reden wir hier eigentlich?

Lane wischte die Finger aus ihrem Gesicht und drehte sich wieder zu den Monitoren, währen Lena weiter neben dem Sessel hocken blieb.

Das Leben ist uns doch nicht gegeben, um es unendlich in die Länge zu ziehen und sich daran festzukrallen – egal, was man damit anfängt. Schau Dich doch um – können wir wirklich noch mehr tun, als unsere Existenz in Würde zu beenden?

Nichts an Lanes Bewegungen auf der Tastatur ließ auch nur erahnen, dass Lenas Worte bei Ihr angekommen waren. Lena setzte sich auf und drückte ihren Körper in ein Hohlkreuz, beide Arme in die Hüfte stemmend. Langsam schritt sie um die Konsole herum.

Die anderen da draußen glauben noch an eine Kraft – lass sie böse oder gewalttätig sein – an eine Kraft, die am Ende immer noch das Gute schafft. Aber – das Problem ist doch nicht, ob dabei am Ende noch etwas Gutes heraus kommt. Diese Kraft ist doch längst erloschen. Wir können nichts mehr ‘schaffen’. Es ist vorbei. Und jetzt – geht es doch nur noch darum, erhobenen Hauptes aus der ganzes Nummer ‘menschliche Existenz’ heraus zu kommen.

Mit durchgedrückten Armen stemmte sich Lena an den Konsolentisch und blickte über die Monitore hinweg auf Lane, die weiter konzentriert Befehle in das System eingab. Lena wartete geduldig, und endlich blickte Lane auf.

Gestern Nacht konnte ich noch nicht einschlafen …“

Ich weiß – irgendwann später bin ich weggedämmert.“

Sie lächelten sich an, und Lena nickte Lane aufmunternd zu, die wieder anfing, die Rüschen zu umspielen mit den Fingerspitzen.

Die Decke war heruntergerutscht bis auf Deinen Schoß. Ich sah, wie sich Deine Muskeln anspannten im Schlaf, wie sich Dein Mund bewegte, als würdest Du mich noch einmal küssen.“

In einem Anflug von Verlegenheit strich sich Lena mit der flachen Hand über den kahlen Schädel, massierte die Stelle hinter dem Ohr, wo ein sich aufbäumendes Einhorn eintätowiert war, schloss die Augen und wartete auf Lanes Stimme zwischen den Ohren.

Deine Lippen waren noch feucht, der Schweiß glänzte auf Deinen Brüsten, es war, als wäre der ganze Raum mit Deinem Geruch gefüllt. Ich hörte Deinen Atem und ich legte meine Hand auf Deine Hüfte. Du drehtest Dich zur Seite und deine Füße berührten meine Oberschenkel.

Für einen Moment schien es, als hätte die Zeit ihren Atem angehalten. Alles verschwand hinter Dir. hinter Deiner Anwesenheit. Da warst nur noch Du, Deine Liebe und mein Gefühl von Geborgensein in Dir. Der Dreck in diesem Bunker, dass Leid unserer von Krebs und Abgasen zerfressenen Körper, die Qual, mit jedem Atemzug dieses mit Pilzgiften angereicherte Luftgemisch zu inhalieren – all das war aufgehoben und zurückgeworfen in ein Art von Unwirklichkeit, als würde es nur noch auf den Bildern eines Wandvorhangs existieren, als ein schauriges Kunstwerk, mit dem wir unsere Klause hier im Bunker ausgeschmückt hätten.

Ich war – von einem Rausch in den anderen hinein geglitten. Nachdem wir gefickt hatten und Du von mir herunter geglitten bist, konnte ich diese wonnige Trance, die sich wie eine dunkle Welle in mir ausbreitete, noch in der Schwebe halten. Und noch ehe diese dunkle Wohligkeit in der Ferne zu vergehen drohte – nahm die Zeit eine Atempause.

Lena öffnete die Augen. Lane erhob sich langsam aus dem grauen Sessel und drehte sich zur Ausgangstür herüber, Lena den Rücken zuwendend.

Ich weiß, das es hier in diesem Bunker, in dieser Welt, nie besser sein wird als in dieser schlaflosen Nacht mit Dir.

Lane blickte direkt in die Beobachtungskamera.

Es ist vorbei. Es wird nicht zurückkehren.“

Aufgeschreckt von der Stimme ruckte Lenas Gesicht hoch, der Blick irrte zur Kamera hinauf und suchte dann Lane, die, mit der linken Hand an der Tischplatte sich abstützend, den Konsolentisch umrundete.

Dein lebendiger Duft, Lena, hatte mich schützend umhüllt und war am Ende der Nacht schon wieder verschwunden. Der Morgen war dann so fade und fern einer Lebendigkeit, dass er sich wie ein Tod anfühlte, wie ein Vorgriff auf das Ende allen Sterbens, das uns ja bevorsteht.

Lane umfasste mit beiden Händen Lenas Gesicht, zog die Lippen der Technikerin nah an ihren Mund, um atemlos zu sprechen.

Und wenn der Hauch des Lebens diesen Orkan dunkler Energie nicht überstehen wird?“

Beim Kuss berührten sich die Zungenspitzen.

Und wenn es kein ‘wenn’ mehr geben wird?

Dann werden wir vorher die Nacht verschlungen und die Zeit ausgetrunken haben, um danach mit wilden Augen den Himmel in Brand zu setzen – diesen ganzen Scheiß eben, in genau dieser Reihenfolge!