Er blickte über den Koffer hinweg den Flur entlang und sah sie im Wohnzimmer sitzen, den Blick starr auf das große Wandregal gerichtet. Gerade erst hatte er sich die Kopfhörer aus den Ohren gezogen, mit der Ferse die Tür zugeschoben und den Schlüssel am Brett aufgehängt. Graue Regenwolken hingen hinter dem Balkonfenster am Himmel, darunter pulsierte eine blaue Tankstellenreklame in die Dämmerung hinein und der Verkehrslärm rauschte als träger Geräuschhintergrund durch den Raum.
„Habe ich was verpasst – wollten wir verreisen?“
Nachlässig warf er die Cordjacke auf den Stuhl neben der Garderobe und ließ Kopfhörer und Smartphone in die ausgebeulte Hosentasche gleiten. Julia drehte ihm langsam das Gesicht zu, gerötet von Schluchzen und Tränen. Stefan schob sich an dem Koffer vorbei und blieb im Türrahmen stehen. Auf dem Tisch lag ihr Tablet, der Bildschirm versendete tonlos eine der üblichen Vorabendserien, ihre beiden Hände krallten sich an den Oberschenkeln in die dunkele Stoffhose und die dunkelblaue Kette lag schief über dem glatt gebügelten Kragen ihrer weißen Bluse. Entschlossen streckte Julia den Rücken durch.
„Ich werde – Dich verlassen.“
Er atmete einmal tief durch, schloss kurz die Augenlider und verschränkte die Arme vor seinem karierten Flanellhemd.
„Blödsinn.“
Julias Augen funkelten ihn wütend an.
„Wenn Du mich einmal im Leben ernst nehmen würdest, dann wüsstest Du, dass das kein Blödsinn ist.“
Julia nahm mit zitternden Hände das Tablet. Ihre graue Handtasche stand prallgefüllt vor dem niedrigen Glastisch.
„Mein Taxi wird in 20 Minuten hier sein. Ich ziehe zu Melanie.“
Mit einer Kopfbewegung wies sie auf den Koffer. Stefan ging einen zögerlichen Schritt auf sie zu und hob fragend die Hände.
„Warum – warum jetzt?“
Julias Blick war immer noch starr auf das Tablet gerichtet. Es kostete sie offensichtlich Mühe, die Sätze beherrscht heraus zu bringen.
„Ich habe heute unseren wöchentlichen CoupleStatus von der 4Life-App bekommen. Wir haben diesen Monat schon wieder Bonus-Punkte verloren.“
Langsam wandte sie sich wieder Stefan zu.
„Und das ist nur Deine Schuld!“
Wieder rannen kleine Tränen über ihre Wangen, Stefans Mund stand offen.
„Aber – das kann nicht sein!“
„Willst Du etwa behaupten, dass diese Ding lügt? Eine staatliche App, die von Millionen Paaren für die Einstufung bei der Wohnungsberechtigung benutzt wird?“
Stefan ballte die Fäuste und biss sich auf die Oberlippe, während Julias Stimme durch die Wohnung klirrte.
„Du bist ein verantwortungsloser Egoist, der nur an sich selber denkt. Du bist null bereit, Dich für ein gemeinsames Leben auch mal zu anzustrengen.“
„Aber …“
Julias Finger wischten über das Display und unter ihren Achseln zeichneten sich Schweißflecken im Stoff der Bluse ab. Der rechte Fuß in dem rosa Sneaker zitterte auf und ab.
„Hier, schau es Dir selber an. Während ich mich abrackere, um Punkte einzusammeln, machst Du mit Deinem asozialen Verhalten alles wieder zu nicht. Wie sollen wir da je an eine größere Wohnung kommen?“
Stefan erkannte, dass die zwei Linien auf dem Tablet eindeutig in zwei verschiedenen Richtungen verliefen. Wortlos starrte er zu Boden.
„Weißt Du noch, was Du mir versprochen hast? Dass Du Dich anstrengen wirst. Dass wir eine größere Wohnung zugewiesen bekommen, in der wir auch ein Kind groß ziehen können. Und dass wir dann auch aus diesem Kaff hier rauskommen – um in der Stadt zu wohnen.“
„Ich weiß.“
Wütend warf Julia das Tablet auf das Sofa.
„Letzten Monat hatten wir darüber gesprochen. Was heißt gesprochen. Ich habe geredet und Du hast an was weiß ich gedacht. Vielleicht hattest Du nur wieder irgendwelche Songs im Kopf.“
Stefan bemühte sich, den Blick nicht auf die Gitarre rechts neben dem Regal abschweifen zu lassen.
„Oder dachtest Du einfach: ‘Lass die dumme Kuh mal reden’? Ich habe Dir da gesagt, wenn das so weiter geht, kann ich nicht mit Dir zusammen leben. Und jetzt – hat sich nichts geändert.“
Sie warf das Gesicht auf die Knie und heulte hemmungslos los. In einem ersten Impuls machte Stefan einen Schritt auf Julia zu, hielt dann aber inne und blieb zwischen Sofa und Tür im Raum stehen, die Arme schlaff am Körper herabhängend.
„Was ist denn nur so schlimm an dem Dorf, an der Wohnung? Wir haben das doch gemeinsam entschieden.“
Julia hob den Kopf, griff nach einem feuchten Taschentuch aus der Box vor sich auf dem Tisch, wischte Tränen und zerlaufene Schminke aus dem Gesicht und blickte ihn noch wütender an.
„Du hast entschieden, hier hin zu ziehen. Ich habe das nur mitgemacht wegen Deines Versprechens, dass wir uns für das Wohnraumzuteilungsprogramm bewerben. Und selbst die Bewerbung musste ich alleine machen.“
Sie warf das zerknüllte Taschentuch zu Boden. Er rieb sich mit der Handfläche die Stirn und nickte stumm.
„Ich habe Dir von Anfang an gesagt, dass ich Kinder will und dass ich sie in einem richtigen Haus groß ziehen will – und nicht in einem Wohnklo am Stadtrand!“
Stefans Blick huschte kurz über die Gitarre, als Julia aufsprang und nach Tablet und Handtasche griff.
„Langweile ich Dich? Kein Problem. Du bist mich sofort los. Das Taxi …“
Er stellte sich Julia in den Weg und sie ließ sich entkräftet zurück auf das Sofa fallen. Stefan atmete tief durch und drehte sich mit dem Rücken zum Regal.
„Diese blöden Bonuspunkte sind doch nicht wichtig.“
Verzweifelt warf Julia die Arme in die Luft. Die Schweißflecken waren nun unübersehbar groß.
„Nicht wichtig? Das ist die einzige Möglichkeit, um an Wohnraum für eine Familie zu kommen. Oder hast Du in der Lotterie gewonnen und wir können auf dem Schwarzmarkt ein Bezugsrecht ergattern?“
Stefan zuckte mit den Schultern.
„Genau – Schulterzucken. Das ist alles, was Dir einfällt. Du bist so ein – verstockter Egomane. Denkst Du eigentlich auch mal an mich, wenn Du den ganzen Tag über so einen Mist baust?
Er blickte verständnislos fragend in ihr verheultes Gesicht hinunter.
„Aber – was habe ich denn falsch gemacht?“
Julia fischte ihre Tablet vom Sofa und fuchtelte mit dem Gerät wild durch die Luft.
„Vielleicht sollte der Herr Künstler dieses Gerät auch mal richtig benutzen, statt immer nur seine Plattensammlung in Dauerschleife durchzuhören.“
Hektisch wischte sie mit zittrigem Finger über das Display.
„Hier – nur die schlimmsten Punktabzüge letzte Woche: drei Mal bei Rot über die Ampel gegangen; eine negative Bewertung bei der Fahrgastbefragung über den Vorortzug abgegeben; dein Kosum-Minimum wieder unterschritten. Un-ter-schrit-ten!“
Ihr rot lackierter Zeigefinger spießte jede Silbe des letzten Wortes in der Luft auf.
„Ich kenne niemanden sonst, der das schafft. Aber – es geht noch weiter. Zwei Schichten Klavierbegleitung im Stadt-Café hast Du weggetauscht, um stattdessen im Proberaum abzuhängen.“
„Wir hatten einen Auftritt …“
Wütend brüllte Sie in den Raum.
„ … der kurz vor Beginn vom Ordnungsamt abgesagt wurde, weil diese verdammte Kneipe ihre Aufführungs-Lizenz verloren hat! Das konnte ich sogar online lesen.“
Julia legte die Hände vor Nase und Mund aneinander und atmete kräftig durch die Finger. Ihre angespannten Schultern fielen nach vorne.
„Du warst seit Monaten nicht mehr im Kino oder im Theater. hast keine Bilder von städtischen Sehenswürdigkeiten gepostet, nicht einmal ein Essen in den Restaurants bewertet. Du gehst immer nur zu den gleichen Türken in ihren billigen Imbiss-Buden.“
Stefan versenkte die Hände in seine Hosentaschen und massierte die Rückseite seines Smartphones.
„Aber wenn es mir dort zum Essen nun mal am besten gefällt?“
Verständnislos schüttelte Julia den Kopf.
„Es geht aber nicht darum, was Dir gefällt, verdammt noch mal! “
Ihre Stimme klang müde, als hätte die Anstrengung, den Wutausbruch unter Kontrolle zu halten, ihre Energie aufgezehrt.
„Es geht um ein gemeinsames Leben, in dem ich auch ein Glück finden kann. Verstehst Du das denn nicht?“
Stefan drehte den Kopf und blickte auf die Bilder der Vorabendserie. Die Szene spielte in dem immer gleichen Restaurant, wo in den Gläsern stets Wein oder Wasser eingegossen wird, die immer gleichen Salate und Nudelgerichte verzehrt werden und die immer gleichen Gesichter sich zu Paaren zusammenfinden, um sich ein paar Folgen später wieder zu trennen. Er legte die Hand in den Nacken, runzelte die Stirn und wandte sich mit einem Seufzer wieder Julia zu. Stefan holte sein Smartphone aus der Tasche.
„Warum schalten wir diese Dinger nicht einfach ab und gehen ins Bett?“
„Abschalten?“
Mit geöffnetem Mund starrte sie ihn an. Entschlossen nickte er zurück.
„Ja, jetzt! Warum auch nicht. Wir sind doch zusammen. Warum sollten wir nicht einfach vögeln wann und wo wir Lust haben?“
„Weil – das jetzt … nicht geht! Wir dürfen die LifeApp nicht abschalten. Dann fliegen wir sofort raus aus dem Zuteilungs-Programm.“
Regungslos starrte Julia auf das Tablett hinunter. Ihr Armreif war den Unterarm hinauf gerutscht und sanft umfassten ihre Hände das Gehäuse. Stefans Daumen umstrich den Ausschalter am Smartphone und ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Kennst Du dieses Gefühl, wenn Du ein Buch noch einmal liest und dann kommst Du an diese Textstelle, die Du bis zu diesem Zeitpunkt nie verstanden hast, und in diesem Moment, ganz plötzlich, wird Dir der Sinn völlig klar. Auf einmal ist alles so – einleuchtend offensichtlich. Aber …“
Er nahm den Blick vom Smartphone. Noch immer starrte Julia aus verheulten Augen zu ihm hinauf.
„… Du liest ja nicht. Dann ein anderes Beispiel. Vielleicht verstehst Du das besser.“
Stefan zögerte einen Augenblick, bevor er lauter weitersprach.
„Leider spielt Dein Gerät nur ab, was irgendein Computer-Algorithmus ausgewählt und in Deine Cloud geschoben hat. Wenn Du wirklich Musik HÖREN würdest, ganze Platten von Anfang bis Ende und Deine Playlists mit viel Sorgfalt zusammenstellen würdest und dann wieder zurück gehst auf die ganze Platte. Und dann ist da ein vorletztes Stück, keines dieser Gassenhauer-Megaseller, aber ein Song, so genial, dass man ihn beim ersten mal überhören kann, nach einem späteren Hören aber nicht mehr aus dem Kopf heraus bekommt. Und Du fragst Dich: ‘Verdammt, wie konnte ich DAS nur überhören?’. Und Du hörst es immer wieder, und Du fühlst beim Hören dann diese … Magie, genau nichts anderes. Diese Magie, eine unentdeckte Insel das erste Mal zu betreten.“
Julia hatte sich zurück gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, ein sprachloses entsetzen im Gesicht aufgetragen. Während das Smartphone immer noch auf seiner rechten Handfläche lag, hatte Stefan die linke zur Faust geballt.
„Diese Magie, diese Schönheit … das muss verteidigt werden. Von mir, von Dir, von uns allen.“
Seine Hände fuchtelten wild durch den Raum.
„Sonst werden wir elendig verrecken, ersticken an dieser Leere, die die Computer und Algorithmen für uns füllen, die alles digital vergiften und kein Raum mehr lassen, für alles, was das Leben lebenswert macht – Leidenschaft, Übermut, Hingabe, Ekstase, Rausch, Liebe.“
Stefan holte Atem und es schien, als würde er für einen Moment in sich hinein horchen, als er kurz die Augen schloss.
„Paris. Genau – Paris – wir müssen Paris verteidigen!“
Langsam erhob sich Julia vom Sofa, ließ das Tablet in die Handtasche gleiten und blickte mit geweiteten Augen in sein erhitztes Gesicht.
„Bist Du jetzt völlig durchgedreht? Erst hast Du meinen Traum zerstört, und jetzt willst Du auch noch mein Leben zerstören?“
Er hob die linke Hand, als wollte er sie auf Julias Schulter legen, brach jedoch die Bewegung ab und ließ den Arm schlaf herunterfallen. Wieder blickte Stefan auf sein Smartphone.
„Nein – im Gegenteil Mir ist nie so klar gewesen, um was es wirklich geht. Und Du – Du musst Dich jetzt entscheiden. Wenn Du jetzt aus der Tür raus gehst zu dem Taxi, dann – wirst Du irgendwann eine Wohnung und eine Kind mit einem Mann haben. Irgendein Leben, das Du für deinen Traum hältst und von dem Du glaubst, dass es Dich glücklich macht.“
Er blickte Julia ins Gesicht.
„Aber dann bist Du heute schon tot. Oder Du bleibst hier, um zu leben und zu kämpfen.“
Er hob die rechte Hand.
„Schalte – das – aus!“
Sie hob die Tasche vor die Brust, als wollte sie sich gegen Stefan verteidigen.
„Niemals! Das ist Wahnsinn. Du bist irre.“
Das Zittern war aus ihrer Stimme verschwunden und die Sätze klangen klar und überlegt. Julias Hand wies zur Tür.
„Da draußen sind Millionen, die genau so denken wie ich. Und Du bist wirklich der Meinung, dass Du es besser weißt als alle anderen. Du bist so ein arrogantes, egoistisches Arschloch. Ich ertrage es nicht mehr. Du bist … “
„ … abartig, ein Querulant, ein Sünder? Wenn das so ist, wenn das alle anderen – Deine Freude, Deine Eltern, Deine ‘Apps’ – wenn alle Dir das einreden, dann sage ich nur: ‘City of Sin – Let me in’.“
Er hielt das Gerät direkt vor die Nase, so dass sie zurück schreckte und sich an der Sofalehne abstützen musste.
„Und jetzt löse ich die Eintrittskarte.“
Als er den Daumen niederdrückte, schrie sie ihn an.
„Das Leben ist kein scheiß Rock-Song. Du beleidigst und verletzt andere Menschen, die nur versuchen, in ihrem Leben zurecht zu kommen.“
„Drauf geschissen.“
Sein Daumen wischte über die Anzeige, mit einem sanften Brummen fuhr sich das Smartphone herunter und schaltete sich aus. Der Donnerhall eines Herbstgewitters ließ die Fensterscheiben erzittern.